Absoluter Gehorsam versus Kooperation
Als mein erstes Pferd Sörli zu mir kam, war ich noch fest überzeugt, dass ein Pferd seinem Reiter unter allen Umständen bedingungslos gehorchen muss. Alles andere, so hatte ich gelernt, war eine Garantie dafür, dass das Pferd jeglichen Respekt vor seinem Reiter verlieren würde.
Erst nach jeder Menge Konflikten mit Sörli, die für ihn mindestens genauso frustrierend waren wie für mich, lernte ich diese Einstellung aufzugeben.
Schlussendlich wurde mein kopfloses, aufsässiges Pferd ein verlässliches Anfängerpferd, auf dem mein Mann reiten lernte. Die beiden bauten eine Freundschaft auf, die auf gegenseitiger Rücksichtnahme basierte. Sörli zeigte bei meinem Mann keine der Verhaltensweisen, die mich so oft in die Verzweiflung getrieben hatten.
Mir drängte sich die Erkenntnis auf, dass gegenseitiges Vertrauen und, überraschenderweise, Kompromisse zwischen Pferd und Reiter, ein deutlich besserer Weg im Umgang mit dem Pferd sind, als auf blindem Gehorsam zu bestehen.
Andere Pferde kamen und gingen, und ich lernte viel von ihnen über das schwierige Gleichgewicht zwischen Kooperation und Gehorsam. Als ich mein aktuelles Pferd Helgi traf, waren meine Ansichten zum Gehorsam eines Pferdes deutlich nuancierter, als sie es zu Beginn meiner „Karriere“ als Pferdebesitzerin waren.
Ich lerne immer noch täglich dazu, wenn ich mit Helgi arbeite.
Aber einige zentrale Erkenntnisse habe sich im Laufe der Zeit klar herauskristallisiert:
- Es gibt durchaus (Notfall-)Situationen, in denen mein Pferd mir bedingungslos und ohne zu zögern gehorchen muss.
- Im Normalfall, wenn es für Pferd und Reiter nicht gefährlich ist, wenn mein Pferd nicht sofort gehorcht, bin ich bereit, Kompromisse einzugehen.
- Um zwischen diesen beiden Extremen eine sinnvolle Balance zu finden, brauche ich eine gewisse Grundeinstellung:
Ich definiere mein Pferd als meinen Junior-Partner. Er kann seine Meinung zu meinen Ideen äußern und manchmal auch Alternativvorschläge machen, aber die endgültige Entscheidung treffe ich. Er muss diese Entscheidung akzeptieren.
Wenn der Tierarzt eine Verletzung behandelt, muss mein Pferd still stehen und die schmerzhafte Prozedur über sich ergehen lassen, obwohl ich ihm nicht erklären kann, warum das notwendig ist. In einer gefährlichen Situation an einer Landstraße muss mein Pferd mir bedingungslos glauben, dass der unscheinbare Stacheldrahtzaun links von uns genauso gefährlich ist, wie das lärmende Auto, das rechts an uns vorbei rast.
Im täglichen Leben hat mein Pferd aber das Recht, seine Meinung zu äußern. Zum Beispiel liebt Helgi es, neue Wege im Wald zu erkunden. Es kommt häufiger vor, dass er lieber links abbiegen will, obwohl ich nachts rechts reiten wollte. Das darf er dann oft auch. Und wenn er klar macht, dass ich absitzen soll, dann tue ich das.
(Letzteres hat mir schon heftige Konflikte erspart, als Helgi starke Rückenschmerzen hatte. Es kann aber natürlich auch Probleme verursachen. Zu diesem Thema wird es in Kürze einen eigenen Blogpost geben.)
Ein Gleichgewicht zwischen den beiden obigen Extremen zu finden, ist nicht einfach.
Mein Pferd soll einerseits im Normalfall seine Meinung äußern können, sogar explizit nein sagen können. Andererseits soll es Situationen erkennen können, in denen es gehorchen muss, ohne nachzufragen. Wie ich oben schon sagte, glaubte ich lange Zeit nicht, dass es möglich ist, einem Pferd diesen Unterschied zu erklären. Sörli hat mich eines Besseren belehrt, und im Laufe der Zeit hat sich für mich herauskristallisiert, dass in der Arbeit mit Pferden nichts so schwarz-weiß ist, wie ich früher geglaubt habe.
Als Helgi als junges, gerade angerittenes Pferd zu mir kam, hatte ich das Glück, mit Johanna Tryggvason eine hervorragende Trainerin an der Seite zu haben. Johanna hält (richtigerweise, wie ich finde) den Respekt für eine der beiden wichtigsten Grundlagen der Arbeit mit dem Pferd. Die zweite, meiner Meinung nach noch wichtige Hälfte dieser Grundlage, ist das Vertrauen zwischen Pferd und Reiter. Von Johanna lernte ich, Vertrauen aufzubauen, indem ich Helgi in den unterschiedlichsten Situationen von Grund auf kennenlernte. Gleichzeitig lernte Helgi mich kennen und einzuschätzen. Darauf aufbauend arbeitete ich an seinem Respekt vor mir.
Dabei ist Johanna ein Aspekt besonders wichtig, mit dem ich sehr einverstanden bin:
Das Pferd sollte immer das Gefühl haben, freiwillig mitzuarbeiten.
Ich leiste Überzeugungsarbeit, übe machmal auch (sanften!) Druck aus. Aber ich möchte nie in die Situation kommen, Helgi gegen seinen erklärten Willen zum Gehorsam zu zwingen, wenn es sich nicht um eine gefährliche Notfall-Situation handelt. Und tatsächlich, obwohl wir gelegentlich durchaus Situationen haben, in denen Helgi die Mitarbeit ganz oder teilweise verweigert: Im Notfall hat er bisher immer bedingungslos gehorcht.
Was tue ich also, um das Gleichgewicht zwischen den beiden Extremen „bedingungsloser Gehorsam“ und „das Pferd macht, was es will“ herzustellen? Das ist natürlich ein zu großes Thema für einen einzelnen Blogpost.
Die Geschichte von Helgis Ausbildung wurde als Buch veröffentlicht:
Helgis Jungpferdetagebuch begleitet ein Jahr lang das tägliche Auf und Ab einer Jungpferdeausbildung.
Wie es nach diesem ersten Jahr weiterging, teilweise mit Johannas Hilfe, teilweise auch ohne Input einer Trainerin, wird in weiteren Geschichten hier im Blog erzählt werden.
Kommt bald mal wieder vorbei, wenn ihr mehr über den nicht immer einfachen Weg erfahren wollt, wie ich daran arbeite, mein Pferd zu einem Partner zu machen, der seine Meinung äußern darf, aber meine Entscheidungen akzeptiert.
Bist du auch der Meinung, dass ein Mittelweg zwischen den beiden Extremen möglich ist? Gehst du einen anderen Weg, und wenn ja welchen?
Erzähl mir gerne in den Kommentaren davon!
Hier sind die Spielregeln für Kommentar auf meinem Blog.
Hat dir diese Geschichte gefallen und du willst die nächste nicht verpassen? Dann folge mir doch gerne auf Instagram!
Kommentar schreiben